Der Fluss

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Langsam trieb die Lakonie den Fluß hinunter, einen Fluß, so weit wie das Meer, sanft seine Strömung, hin und wieder störend von einem Strudel um alle Gleichförmigkeit gebracht, seine Farbe oberflächlich ein erfrischendes, klares Türkis, das sich beim Blick in die Tiefe nur gleich in abgrunddunkelstes Schwarz wandelte, einen hinunterziehen wollte als ob man sich in einem alptraumhaften Kellerlabyrinth mit versagender Beleuchtung verirrte, also lieber schön geradeaus schauen, wo das Wasser in der Ferne einen allumfassenden Bund mit dem Himmel einging, und darunter sich in der offenen See verlor, verteilte, aufgab, oder vielleicht stattdessen in die Endlosigkeit weiterfloß, eine unwahrscheinliche Reise ermöglichend, entlang an diesen sagenhaften Ufern voller unbekannter, rätselhafter, zauberreicher Farben, Wesen, Stimmungen, von denen eines irgendwann einladen mochte anzulanden und zu verweilen, als Rast auf der langen Fahrt oder gar –wer konnte das im Vorhinein schon sagen- gänzlich dauerhaft, um das Treiben zu beenden, ein neues, anderes Dasein zu begründen!

„Sie werden sicherlich in den Sand beißen!“

Immer weiter, das Schiff passierte einen rauhen Strand, auf dem ziellos und ungeordnet weiß-rot gestreifte Leuchttürme auf und ab patrouillierten, die, würde die Nacht hereinbrechen, niemandem von Nutzen sein würden, da ihre Lampen erloschen und ihre Spiegel stumpf waren, ein bedauernswertes Schauspiel, wie so manches andere, das sich im Laufe der vergangenen Wochen beobachten ließ, vergebene Möglichkeiten, unglückliche Konstellationen, absurde Umstände, als ob es bei der Aufstellung eines großen Plans zu lauter grotesken Mißverständnissen gekommen wäre, nichts und niemand sich zur rechten Zeit am rechten Ort fand und alles nur darauf wartete, wieder eingesammelt und neu und diesmal richtig verteilt zu werden, ein aussichtsloses Warten, niemand würde kommen und alles richten, es war nun einmal so wie es war, man mußte es hinnehmen oder darüber hinwegsehen und darauf hoffen, irgendwann vielleicht eine Bucht oder gar einen Hafen zu entdecken, in dem der zu erwartende Empfang nicht lächerlich oder gar gefährlich war, und sollte es nicht passieren, konnte man auch nichts weiter tun.

 „Beinahe so grandios wie die Weinenden Gärten.“

Der einzige Passagier der Lakonie –gleichzeitig die einzige Person überhaupt an Bord- stand an Deck und hielt Ausschau nach allem was da kommen mochte, vielleicht die Fortsetzung sein konnte seines bisherigen Lebenslaufes, der sich lange zuversichtlich so viele scharfe Biegungen, schützende Buchten, trügerische Untiefen hindurch gewunden hatte, bis ihn eines Tages das Schicksal ereilte und er auf diesem Schiff auf den Fluß hinausgespült wurde, ohne Rang oder Amt, selbst den Namen eingebüßt, vom Synharmonischen Rat verurteilt zu Verlust der Identität und Reise in die Unbestimmtheit... Er beobachtete, die Augen durch die Schirmmütze und zusätzlich eine Hand vor der grellen Sonne geschützt, die durch klaren Himmel herunterschien, die Schiffsplanken erhitzte, die Luft zum Schwirren brachte, das Land zu ihrer Rechten austrocknete, so daß selten besonders üppige Vegetation zu beobachten war, mit Ausnahme der fantastischen Gärten, die eines Tages entlang des Ufers auftauchten, dichte grüne Büsche im Wechsel mit saftigen Wiesen voller bunter Blüten, dazwischen überall eigentümlich-schöne Bäume, deren Äste in zauberhaften, eleganten Schwüngen durcheinander und in die Höhe wirbelten, ein erhabener, fast glücklicher Anblick, wäre nicht diese bedrückende, schwermütige Stimmung gewesen, die von dort geradezu physisch zum Schiff herüberwehte, und bei näherem Hinsehen offenbarte sich, noch seltsamer, daß von den geschwungenen Astenden dieser Bäume riesige Tränen herabrannen, die Stämme hinunter oder zu Boden tropfend, die tiefer sprießenden Ranken benetzend, somit zumindest rundum für anhaltend kräftige Bewässerung sorgend, doch ebenso für eine Aura atemberaubender Melancholie, die jeden Gedanken an ein mögliches Verweilen sofort im Keim erstickte.

„Ein seltsames Irren.“

Er sprach zu sich selbst, mehr laut denkend, da niemand sonst da war, ein Zustand, der ihn zuerst hilflos gemacht hatte, doch überraschend schnell Gewohnheit geworden war, das einzig Mögliche, denn nicht einmal an Land hätte er eloquente Gesellschaft erwarten dürfen, es gab seit langem keine Leute zu sehen, das letzte Mal war, als sich noch beide Ufer des Flusses gleichzeitig in Reichweite und im Blick befanden, und es schien nicht so, daß eine Konversation allzu erquicklich verlaufen wäre, im Norden wild lodernde Feuerfrauen und weißglitzernde Eismänner, einander hypnotisch umtanzend, sich einander nähernd, bis sie dicht davor waren sich zu berühren, doch dann wieder zurückschreckend, beide Seiten dabei merklich Substanz einbüßend, im Abstand sich von allen Blessuren erholend und dann alles wieder ganz von vorne, gegenüber auf der südlichen Seite rotfackelnde Feuermänner und froststarrende Eisfrauen, im selben verzweifelten, aussichtslosen Spiel gefangen, doch unermüdlich, auf ihre Partner fixiert und ohne die kleinste Muße, einem vorbeifahrenden Schiff Aufmerksamkeit zu schenken oder Ihresgleichen -oder Ihresungleichen- auf der anderen Seite des Flusses.

„Nanu, was kommt denn da?“

Voraus näherte sich auf dem Wasser ein dunkler Fleck, wurde rasch größer. Es war ein anderes Schiff! Sie waren noch kein einziges Mal einem anderen Schiff begegnet. Er lief nach vorne und stellte sich in den Bug, um es besser beobachten zu können. Ein leichter Segler, langgestreckter weißer, hölzerner Rumpf, zwei Masten, genau wie die Lakonie. Mit seltsamer Leichtigkeit fuhr der andere genau entgegengesetzt zu ihrer Richtung. Und auch in dessen Spitze schien eine einzelne Person zu stehen und herüberzuschauen. Er fühlte so etwas wie Spannung in sich aufsteigen, obwohl er gedacht hatte, dieses Gefühl im Laufe der langen Reise vergessen zu haben.

„Asteria...“

Zuerst erkannte er den Namen des anderen Schiffes, der da in schwarzen Lettern an den Bug geschlagen stand. Doch merkwürdig: Im selben Moment, wo er dies entziffert hatte, las er plötzlich etwas ganz anderes: Miseria. Oder hatte er sich versehen? Leicht verwundert rieb er sich die Augen. Der andere hatte sie fast erreicht. Auf dem Vordeck stand eine junge Frau, offene, lange schwarze Haare, eingehüllt von einem unter dem Kinn durch eine silberne Schnalle zusammengehaltenen, schon leicht abgeschabten sandfarbenen Umhang, darunter ein Anzug aus gleichem Stoff, möglicherweise viel zu warm für den Tag, doch entspannt und mit festen Blick auf ihn schauend. Die Schiffe trieben aufeinander zu, langsamer werdend, bis sie beinahe, aber nicht vollständig bewegungslos Bug an Bug lagen. Am Rumpf des anderen stand nun Sanctuaria.

„Ich grüße den Gott in dir“, rief sie mit heller Stimme herüber.

Erstaunt nickte er zurück: „Ich grüße Euch ebenso!“

„Wohin führt dich die Reise?“

„Den Fluß hinunter, ich habe kein bestimmtes Ziel. Vielleicht zu einem einladenden Ankerplatz. Und Ihr?“

Sie lächelte, ihre blauen Augen leuchteten: „Ein einladender Ankerplatz? Das scheint mir ein gutes Ziel zu sein. Mag sein, daß das auch mein Ziel ist. Aber glaubst du, flußabwärts findest du bessere als die, an denen du bisher vorbei kamst?“

Er runzelte die Stirn: „Die ich bisher passierte, waren sämtlich traurig oder desolat.“

„Sämtlich traurig oder desolat?“ Beinahe schien es, als ob sie ihm zuzwinkerte. „Hast du denn auch ins Hinterland gesehen? So mancher Ort mag besser sein, als es zuerst den Anschein hat. Oder du kannst etwas tun, um ihn dir besser zu gestalten!“

„Hm.“ Er überlegte einen Augenblick, überflog ihre abenteuerlustigen Gesichtszüge, ihre hochgewachsene Gestalt, dann weiter die Linie des Schiffes, das sie trug und das langsam, sehr langsam, aber doch merklich weiterdriftete, sie auseinanderbrachte, und war sich unschlüssig darüber, ob ihn das beunruhigen sollte. „Mir scheint, Ihr habt eine gute Ahnung davon, wie man es anstellen müßte? Oder gar, daß es überhaupt keinerlei Schwierigkeit darstellt, den rechten Platz zu finden?“

Sie antwortete nicht, lächelte ihn nur an. Ihr Segler hatte sich inzwischen so weit an seinem vorbeigeschoben, daß er gezwungen war, das Vordeck zu verlassen und ihr entlang der Bordwand nachzugehen um nicht schreien zu müssen.

„Was haltet Ihr davon, gemeinsam zu suchen? Ich könnte mich Euch anschließen.“

Doch sie schüttelte den Kopf: „Aus der Richtung, in die ich fahre, kommst du doch gerade. Du solltest nicht umkehren, sondern weiter deinem eigenen Weg folgen! Ich bin sicher, daß du einen Ankerplatz finden wirst!“

Sie winkte ihm zu, wie zum Abschied. Die Schiffe nahmen Fahrt auf, begannen schneller voneinander fort zu treiben. Sein Blick fiel auf den Bug des anderen: Dort stand nun Incendia.

(01/2003)

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